SOWI, Oktober 1977

Bedürfnisse, Erfahrung, Verhalten

Alf Lüdtke

Zur Einleitung

„Die Bedürfnisse der Menschen“ sind mittlerweile nicht nur für Protestbewegungen und Bürgerinitiativen ein zentraler Rechtfertigungsgrund politischer Forderungen und Aktivitäten. Die Unklarheit und Unsicherheit über das, „was Menschen wichtig ist, was sie — bewußt oder unbewußt — zu erreichen oder zu vermeiden trachten“ (B. Badura), ermuntert offenbar auch die Mächtigen und ihre Bürokratien, die Strebungen und Sehnsüchte der Individuen für ihre Ziele zu vereinnahmen. Mit diesem Heft sind natürlich tatsächliche oder befürchtete Manipulationen von Bedürfnissen nicht zu überwinden. Es ist aber vielleicht möglich, in einigen Punkten das Defizit an gesellschaftswissenschaftlicher Analyse und ihrer unterrichtspraktischen Vermittlung zu vermindern.

Dabei ist der Ausgangspunkt, daß Bedürfnisse nicht ausreichend beschrieben sind, wenn sie (in sozialpsychologischer Manier) als Spannungszustände zwischen sehr formalisierten „Soll“- und „Ist“-Werten charakterisiert werden; auch angebliche anthropologische Grundbefindlichkeiten oder „basic human needs“ (A. Etzioni) stehen nicht in Frage. Vielmehr soll deutlich gemacht werden, daß Bedürfnisse stets Produkte historischer Umstände und Umwälzungen sind — also nicht von den Pro-duktions-, Aneignungs- und Austauschverhältnissen und den mit ihnen verknüpften Interessenstrukturen einer Gesellschaft isoliert werden dürfen. Allerdings bleibt auch bei gesamtgesellschaftlichen Perspektiven die Aufmerksamkeit vielfach konzentriert auf Wesen und Logik gesellschaftlicher Entwicklungen, hier also auf abstrakten „Ein-stellungsmustern“. Die „Innenseiten“ der Strukturen, Prozesse und Muster sind dabei jedoch in aller Regel ausgeblendet. D. h., die täglichen Erfahrungen, die Menschen in ihren konkreten Lebenssituationen machen, und die ihre Bedürfnisse prägen, werden übersehen.

Es wäre aber ein Trugschluß, ginge man davon aus, nur mehr oder minder spektakuläre Ereignisse würden Erfahrungen vermitteln. Vielmehr sind z. B. Proteste und Feste, aber auch institutionalisierte Äußerungen (Wahlen, Organisationsmitgliedschaften) nur begrenzt aussagefähig. Sie bildeten (und bilden) selten oder nie den Kern der alltäglichen Erfahrung und Aktivität der übergroßen Mehrheit. Das Alltagsleben wird jedoch zum Thema, wenn nach „Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens“ (F. Engels) gefragt wird. Ins Zentrum rückt dann das Verhältnis von Arbeit und Nicht-Arbeit, von täglicher Lust und Last. — Nur auf diesem Wege öffnen sich Möglichkeiten, „Alltagsbewußtsein“ nicht von vornherein als „blind und gläubig“ zu denunzieren (so aber Th. Leithäuser). Einsicht in seine Entstehung im Zusammenhang der täglichen Praxis läßt vielmehr seine Ambivalenzen erkennen. Lern- und Veränderungschancen treten hervor, die die Wahrnehmung, Entfaltung und Befriedigung von Bedürfnissen erleichtern können.

Bedürfnisse erschließen sich — so die hier vertretene Konzeption — nur in der Analyse des Alltagslebens. Allein mit diesem Zugriff scheint es auch möglich, die Beziehungen zwischen Handlungsantrieben und tatsächlichem Handeln oder Verhalten zu rekonstruieren. Das Kernstück dieses Zusammenhangs wird hier als individuelle und gesellschaftliche „Erfahrung“ gesehen; die Frage nach der „Erfahrung im Herstellen von Erfahrungen“ (Negt/ Kluge) bezeichnet die Perspektive: Wie lassen sich geschichtliche Situationen im doppelten “Sinne aufheben — überwinden und produktiv erinnern?

Für Recherchen dieses Zuschnitts sind vorerst nur Bausteine möglich: Unerläßlich ist räumliche und zeitliche Beschränkung, aber auch Konzentration auf einzelne Gruppen (hier im Vordergrund: Industriearbeiter) oder zentrale Einzelaspekte (hier: Arbeitsprozesse, Haushalt). Die Notwendigkeit zur Beschränkung gilt auch für die drei abschließenden Beiträge, die über konzeptuelle, politische und pädagogisch-didaktische „Bearbeitungen“ von Bedürfnissen berichten.

Alf Lüdtke