Fabrik Familie Feierabend
Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter
Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Wolfhard Weber
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1978
Vorwort
Von den Großen dieser Erde Melden uns die Heldenlieder: Steigend auf so wie Gestirne Gehn sie wie Gestirne nieder. Das klingt tröstlich, und man muß es wissen. Nur: für uns, die wir sie nähren müssen Ist das leider immer ziemlich gleich gewesen. Aufstieg oder Fall: wer trägt die Spesen? (B. Brecht: Das Lied vom Wasserrad, 1934)
Die deutschen Neuzeithistoriker haben sich in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten überwiegend mit den »Haupt- und Staatsaktionen« und den Leistungen und Wirkungen »großer Männer« beschäftigt; die zentralen Linien der Politik und die ins Auge fallenden politischen Ereignisse beherrschten neben ideen- und verfassungsgeschichtlichen Fragestellungen weitgehend die historische Forschung. Erst allmählich und keineswegs durchgängig wurden nach dem Zweiten Weltkrieg auch sozioökonomische Zusammenhänge und Prozesse untersucht und Strukturen, d. h. die inneren Bauformen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, analysiert. Hinzu kam in jüngster Zeit die Beschäftigung mit geschichtswirksamen sozialen Bewegungen, besonders mit der Arbeiterbewegung. Wie aber die einzelnen Menschen unter den Bedingungen der spektakulären politischen Ereignisse und sozialen Wandlungsprozesse der Moderne gelebt, wie sich diese im alltäglichen Leben der vielen einzelnen und Kleingruppen bemerkbar gemacht haben, ist bisher kaum untersucht worden. Möglicherweise hielten die meisten Historiker diesen Bereich für zu banal und »alltäglich«. Geschichtsformende Kräfte suchten und erkannten sie entweder im Denken und Handeln einzelner herausragender Persönlichkeiten oder in anonymen, aber mehr oder weniger »gesetz«mäßig ablaufenden Prozessen. Der »kleine Mann«, der »Normalverbraucher«, blieb bei dieser Betrachtungsweise »auf der Strecke«. Er und seinesgleichen, die »Leute«, die nach Brecht am Ende die Spesen zu tragen haben, waren allenfalls Fußvolk, Statisten, »nur« passiv Betroffene; höchstens in Ausnahmefällen handelten sie einmal kollektiv als »Masse«, »Pöbel«, »Volk«. Mit Recht hat deshalb ein Nichthistoriker, der Schriftsteller Enzensberger, schon vor zwei Jahrzehnten geklagt: »Wir haben eine Geschichte der Völker. Die der Leute ist immer noch nicht geschrieben ...« Auch heute besitzen wir noch keine Geschichte des Alltags, aber es lassen sich seit einiger Zeit verschiedene Schritte unterschiedlicher Herkunft in diese Richtung feststellen:
1. Manche Sozialhistoriker erinnerten sich an Ansätze älterer kulturhistorischer Forschungen, aufgenommen in der Landesgeschichte, aber auch in der Volkskunde, die dann allerdings eigene Wege ging und erst in jüngster Zeit sich wieder historischen Fragestellungen nähert.
2. Weitere Anregungen gingen von der französischen Historikergruppe um die Zeitschrift »Annales« aus. In vielerlei Detailforschungen war von ihren Vertretern der einzelne nicht als isoliertes Individuum oder als winziger Teil großer Kollektive, sondern als soziales Wesen in einer Fülle von gesellschaftlichen Bezügen gesehen worden, die man nur durch eine fächerübergreifende »Wissenschaft vom Menschen« untersuchen zu können glaubte. Ein Zeichen für die Wirkung dieser Gruppe ist die noch nicht abgeschlossene Diskussion um Fragestellungen und Selbstverständnis einer »Historischen Anthropologie«.
3. Die intensivere Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung seit etwa einem Jahrzehnt hat - nicht nur bei uns, sondern auch z. B. in der DDR - die Einsicht gefördert, daß man diese Bewegung eigentlich nicht voll verstehen kann, wenn man nicht die Lebensbedingungen und das alltägliche Denken und Handeln derjenigen kennt, von denen sie getragen wurde und denen sie in erster Linie galt.
4. Gleichzeitig erwiesen sich sozialwissenschaftliche Forschungen als besonders anregend, bei denen Alltagsverhältnisse im Hinblick beispielsweise auf die Entstehung von gruppenspezifischen Mentalitäten, Wahlentscheidungen, Konsumverhaltensweisen usw. untersucht wurden. Unter dem Einfluß moderner sozialwissenschaftlicher Fragestellungen und Methoden begannen vor allem jüngere Historiker, die Geschichtswissenschaft insgesamt als »Historische Sozialwissenschaft« zu verstehen.
Der langsamen Hinwendung zu einer Sozialgeschichte des Alltags folgte bald das Staunen über die Problemfülle und die Fragemöglichkeiten sowie über den Quellenreichtum, die eine zusammenfassende Darstellung z. B. des Alltags unter dem Einfluß des Industrialisierungsprozesses vorerst noch unmöglich machen. Werner Conze hat daher in seinem Abschlußvortrag auf dem Mannheimer Historikertag 1976 ausdrücklich aufgerufen, diesen »Neulandbereich« zu betreten. Beweggrund dazu ist weder verklärende Nostalgie noch allein museale bzw. antiquarische Neugier, sondern vor allem die Überzeugung, daß mit dieser Hinwendung ein Beitrag zum besseren Verständnis tiefsitzender Prägungen und Verhaltensweisen, zentraler Bedürfnisstrukturen und ähnlicher grundlegender Aspekte des menschlichen Zusammenlebens in einer differenzierten modernen Industriegesellschaft geleistet werden kann.
Im vorliegenden Band sind in vierzehn exemplarischen Beiträgen Teilaspekte und Forschungsansätze dieses Problemfeldes zusammengefaßt, die insgesamt mehr zum Weiterfragen anregen als abschließende Ergebnisse bringen sollen. Bewußt wurden dabei recht unterschiedliche Quellengattungen herangezogen (z. B. literarische Quellen, Werkzeuge, Bilder, Statistiken, Interviews u. ä.). Nicht nur der Platzmangel, auch der Forschungsstand bedingen aber deutliche Lücken. Zudem war eine zeitliche und räumliche Eingrenzung angebracht: Bis auf zwei weiter ausgreifende Beiträge behandeln die Aufsätze Themen aus der Industrialisierungsphase im engeren Sinn, also von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Weimarer Republik, wobei sie sich vor allem regional auf das Rheinisch-Westfälische Industriegebiet und seine Nachbarschaft beziehen. Dieser Raum bot sich in besonderer Weise an, weil er von Anfang an kein hauptstädtisches Ballungszentrum, sondern eine flächenhafte Agglomeration gewesen ist, in der nebeneinander dörfliche und städtische Entwicklungen unter dem dominierenden Einfluß der Industrie abgelaufen sind.
Nach zwei einleitenden Aufsätzen, die - ausgehend von ungewöhnlichen Quellen - Lebensbedingungen und Normenstruktur in der Frühindustrialisierung, z. T. am Beispiel einer bestimmten Stadt (W. Köllmann), und in einem an das Ruhrgebiet angrenzenden agrarischen Gebiet (A. Gladen) behandeln, folgen drei Bereiche, in denen - in lockerer Zuordnung - Probleme des Arbeitsplatzwandels, der häuslichen Lebensverhältnisse und der Nicht-Arbeitszeit dargestellt werden. Während im ersten Bereich (Stichwort »Fabrik«) im ersten Beitrag zunächst allgemein die Frage nach den sich wandelnden Arbeitsbedingungen vor allem unter dem Begriff der »Arbeitssicherheit« in seiner doppelten Bedeutung im Mittelpunkt steht (F. W. Henning), untersuchen die beiden folgenden Beiträge Arbeitsplatzwandel und Arbeitsverrichtungen am Beispiel zweier Berufe, in denen noch lange handwerkliche Traditionen weiterwirkten (W. Weber, R. Stahl-schmidt). Vier weitere Aufsätze (Stichwort »Familie«) beschäftigten sich weniger mit den bisher noch kaum erforschten inneren Familienstrukturen als vielmehr mit den Sozialisationsbedingungen und Bedürfnisbefriedigungen (L. Niethammer / F. Brüggemeier; H. J. Teuteberg / A. Bernhard) sowie mit Versuchen von Selbsthilfeorganisationen und Betrieben (G. Huck), Schulen und Kommunalverwaltungen (J. Reulecke), darauf einzuwirken. Der Übergang zum letzten Bereich (Stichwort »Feierabend«) ist fließend. Die beiden Aufsätze, die sich exemplarisch mit Problemen evangelischer Gemeinden im Industriezeitalter (A. Kraus) und ihrer Einschätzung durch Vertreter der Kirche (G. Brakelmann) auseinandersetzen, machen deutlich, wie kirchliche Einstellungen und Verhaltensweisen in die Gefahr gerieten, in Randzonen menschlicher Existenz »abgedrängt« zu werden. Drei abschließende Beiträge analysieren unter den Leitbegriffen »Kommunikation« und »Sozialisation«, wie sich vor allem im Bereich der Nicht-Arbeitszeit die Industriegesellschaft vielfältig strukturiert und in »subkulturellen« Erscheinungsformen ausgeprägt hat (K, Tenfelde, V. Schmidtchen, S. Gehrmann).
Angesichts des breiten Spektrums der behandelten Themen und der Vorläufigkeit der Einzelergebnisse können wir nur mit erheblichen Einschränkungen von einem Gesamtergebnis sprechen. Immerhin dürften die Beiträge sichtbar machen, daß »Industrialisierung« ein höchst differenzierter, in sich widersprüchlicher und teilweise auch von älteren Traditionen und retardierenden Kräften geprägter Vorgang war. Offenbar hat erst ein langer Lernprozeß die Menschen befähigt, sich in den neuen Strukturen mit ihren veränderten Wertigkeiten zurechtzufinden. Erst nach einer mühevollen Anpassung war es ihnen möglich, Forderungen zu stellen, in solidarischen Aktionen selbstbewußt soziale Konflikte auszutragen und so an den »Errungenschaften der modernen Zivilisation« teilzunehmen.
Jede Geschichtsforschung ist immer auch »Kind ihrer Zeit«; die eigenen Probleme prägen in erkennbarer Weise das Erkenntnisinteresse und die jeweils vorherrschende Fragerichtung. Wenn heute Historiker durch eine Hinwendung zur Sozialgeschichte des Alltags den einzelnen in seiner sozialen Umwelt ernster nehmen als bisher, dann mag darin die Befürchtung mitschwingen, daß die vielfältigen Hoffnungen, Ängste und Glückswünsche der »Leute« aus dem Blickfeld geraten könnten. Gerade diese Gefahr droht sowohl in totalitären Einparteienstaaten als auch in technokratisch erstarrten pluralistischen Gesellschaften, wenn eine arrogante und menschenverachtende Bürokratie den Alltag zu bestimmen versucht.
Bochum, im Februar 1978
Jürgen Reulecke Wolfhard Weber
Inhalt
Vorwort 7
Wolfgang Köllmann: Aus dem Alltag der Unterschichten in der Vor- und Frühindustrialisierungsphase 11
Albin Gladen »Augustin Wibbelt: Drüke-Möhne« - Grundwerte in der bäuerlichen Lebenswelt des Münsterlandes an der Wende zum 20. Jahrhundert 39
Friedrich-Wilhelm Henning: Humanisierung und Technisierung der Arbeitswelt. Über den Einfluß der Industrialisierung auf die Arbeitsbedingungen im 19. Jahrhundert 57
Wolfhard Weber: Der Arbeitsplatz in einem expandierenden Wirtschaftszweig: Der Bergmann 89
Rainer Stahlschmidt: Arbeitsplatz und Berufsbild im Wandel: Der Drahtzieher 115
Franz J. Brüggemeier / Lutz Niethammer: Schlafgänger, Schnapskasinos und schwerindustrielle Kolonie. Aspekte der Arbeiterwohnungsfrage im Ruhrgebiet vor dem Ersten Weltkrieg 135
Hans-Jürgen Teuteberg / Annegret Bernhard: Wandel der Kindernahrung in der Zeit der Industrialisierung 177
Gerhard Huck: Arbeiterkonsumverein und Verbraucherorganisation. Die Entwicklung der Konsumgenossenschaften im Ruhrgebiet 1860-1914 215
Jürgen Reulecke: Von der Dorfschule zum Schulsystem. Schulprobleme und Schulalltag in einer »jungen« Industriestadt vor dem Ersten Weltkrieg 247
Antje Kraus: Gemeindeleben und Industrialisierung. Das Beispiel des evangelischen Kirchenkreises Bochum 273
Günter Brakelmann: Evangelische Pfarrer im Konfliktfeld des Ruhrbergarbeiterstreiks von 1905 297
Klaus Tenfelde: Bergmännisches Vereinswesen im Ruhrgebiet während der Industrialisierung 315
Volker Schmidtchen: Arbeitersport - Erziehung zum sozialistischen Menschen? Leitwerte und Jugendarbeit m zwei Ruhrgebietsvereinen in der Weimarer Republik 345
Siegfried Gehrmann: Fußball in einer Industrieregion. Das Beispiel F. C. Schalke 04 377
Anhang: Bibliographische Hinweise 399
Bildnachweis, Quellenangaben zu den Abbildungen und Tabellenverzeichnis 409
Stichwortregister 413
Ortsregister 415
Autoren Verzeichnis 419
Autorenverzeichnis
Annegret Bernhard, Studienreferendarin, geb. 1951, Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie in Münster.
Günter Brakelmann, Dr. theol., ord. Professor für christliche Gesellschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum, geb. 1931, Studium der Theologie und Geschichte in Bethel, Tübingen und Münster.
Franz J. Brüggemeier, Wissenschaftlicher Assistent im Fachbereich 1 (Fach Geschichte) der Universität Essen, geb. 1951, Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften in Bochum, München, York und Bremen.
Siegfried Gehrmann, Dr. phil., Akademischer Oberrat im Fachbereich 1 (Fach Geschichte) an der Universität Essen, geb. 1936, Studium der Geschichte, lateinischen Philologie und Philosophie in Köln und Freiburg.
Albin Gladen, B. A., Dr. phil., Studienprofessor an der Abteilung für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, geb. 1929, Studium der Geschichte, Anglistik und Romanistik in Münster, Dayton (Ohio, USA) und Bochum.
Friedrich-Wilhelm Henning, Dr. rer. pol., Dr. jur., ord. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Köln, geb. 1931, Studium der Geschichte, Landwirtschaft, Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft in Göttingen.
Gerhard Huck, Dr. phil., Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte I/Demographie an der Ruhr-Universität Bochum, Abteilung für Geschichtswissenschaft, geb. 1945, Studium der Geschichte und Politologie in Göttingen, Freiburg und Bochum.
Wolfgang Köllmann, Dr. phil., ord. Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte/Demographie an der Ruhr-Universität Bochum, geb. 1925, Studium der Geschichte und Germanistik in Göttingen.
Antje Kraus, Dr. phil., Akademische Oberrätin an der Abteilung für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, geb. 1933, Studium der Soziologie, Psychologie und Geschichte in Berlin und Hamburg.
Lutz Niethammer, Dr. phil., ord. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Essen, geb. 1939, Studium der Geschichte, Theologie und Sozialwissenschaften in Bonn, Heidelberg, Köln und München.
Jürgen Reulecke, Dr. phil., Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte I/Demographie an der Ruhr-Universität Bochum, Abteilung für Geschichtswissenschaft, geb. 1940, Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie in Münster, Bonn und Bochum.
Volker Schmidtchen, Dr. phil., Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Technikgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum, Abteilung für Geschichtswissenschaft, geb. 1945, Studium der Geschichte, Romanistik und Sportwissenschaft in Bochum.
Rainer Stahlschmidt, Dr. phil., Staatsarchivrat am Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, geb. 1944, Studium der Geschichte, Geographie und Soziologie in Bonn, Heidelberg und Bochum.
Klaus Tenfelde, Dr. phil., Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Neuere Geschichte an der Universität München, geb. 1944, Studium der Geschichte, Soziologie und Germanistik in Münster.
Hans-Jürgen Teuteberg, Dr. phil., ord. Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Neueren und Neuesten Zeit an der Universität Münster, geb. 1929, Studium der Geschichte, Volkswirtschaft, Staatswissenschaft und englischen Philologie in Göttingen.
Wolfhard Weber, Dr. phil., apl. Professor, Dozent für Wirtschafts- und Technikgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum, Abteilung für Geschichtswissenschaft, geb. 1940, Studium der Geschichte, Anglistik, Pädagogik und Sportwissenschaft in Marburg und Hamburg.