Der Bauernbandit als neuer Heros

Hans-Ulrich Wehler - Die Zeit (1981)

Der Bauernbandit als neuer Heros

Ohne Einbettung in ein umfassenderes Geschichtsbild droht eine Sackgasse

Hans-Ulrich Wehler
Die Zeit September 19, 1981

Der Nestor der Wirtschaftsgeschichte in der DDR, Jürgen Kuczynski, hat in der Mitte seines achten Lebensjahrzehnts ein Unternehmen begonnen, das zunächst einmal Respekt vor dem Mut und dem Optimismus des Autors abnötigt. Es soll offenbar das Lebenswerk des Autors krönen, der eine der interessantesten Gestalten in der wissenschaftlichen Welt der DDR ist: Sohn einer traditionsreichen jüdischen Gelehrten- und Bankiersfamilie, als Student noch in Berührung mit den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Größen der deutschen Wissenschaft am Jahrhundertbeginn, Bekehrung zum Kommunismus, Verfasser statistischer und politökonomischer Werke und, vor allem, einer vierzigbändigen „Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus“. Das neue Unternehmen hat vergleichbar monumentale Züge:

Jürgen Kuczynski: „Geschichte des Alltags des deutschen Volkes“, Band I: 1600–1650, Band II: 1650–1810; Verlag Pahl-Rugenstein, Köln 1980 und 1981, je 560 S., je 29,80 DM; Band III, IV und V sind angekündigt.

Kuczynski beweist damit auch Gespür für einen neuen, inzwischen geradezu modischen Trend in der Geschichtswissenschaft verschiedener westlichen Länder: er fordert, Alltagsgeschichte stärker in den Mittelpunkt zu rücken. In der DDR ist Kuczynski der erste, der in dieses Plädoyer so entschieden und seitenstark einstimmt. Die beabsichtigte Anregung verdient unstreitig Anerkennung. Das bisher vorliegende Ergebnis ist jedoch, um ein Urteil vorwegzunehmen, nicht nur betrüblich, sondern, unverschnörkelt gesagt, rundum enttäuschend: Man hat es mit der Buchbindersynthese des Inhalts umgekippter Zettelkästen zu tun. Karge Einleitungen und Zwischenbemerkungen können nicht verhüllen, daß es sich bei diesem Werk um die Kompilation fleißig gesammelter Auszüge aus den Schriften anderer handelt. Daß er nur „Bausteine“ für eine künftige Alltagsgeschichte zusammentrage, räumt Kuczynski dabei mit entwaffnender Offenheit selber, ein. Doch von einer durchgeformten Darstellung sind diese Bände nach alledem noch viel weiter entfernt als es die „Lage der Arbeiter“ bereits war – und das will schon etwas heißen.

Welcher Teufel den Rezensenten ausgerechnet der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ geritten hat, als er den ersten Band von Kuczynskis Alltagsgeschichte als das bedeutendste Ereignis im Bereich der Sachbücher auf der vergangenen Frankfurter Buchmesse feierte, ist schwer vorstellbar. Gelesen haben kann er diesen Band nicht. Historiker kann er ohnehin kaum gewesen sein, aber auch etwas gesunder Menschenverstand hätte ihn vor so viel irregeleitetem Enthusiasmus bewahrt. Dem DDR-Lizenzspezialisten Pahl-Rugenstein konnte der Superlativ dagegen nur recht sein: Mit dem Lorbeerkranz aus dem „bürgerlichen“ FAZ-Feuilleton ist fortab für das neue Opus fleißig Reklame gemacht worden.

Die Lektüre enthüllt jedoch sowohl die schiere Ignoranz dieses Urteils als auch die Maßlosigkeit der bombastischen Verlagsankündigung, daß in diesen Bänden Neuland der Geschichtsschreibung beispielhaft-vorbildlich betreten werde. Eines freilich muß man Kuczynski hoch anrechnen. Durch den Abdruck von langen Abschnitten auch aus westlichen Neuerscheinungen, die selbst seinen Fachkollegen offenbar noch immer schwer zugänglich sind, hat er der ostdeutschen Wissenschaft einen wertvollen Dienst erwiesen und sich, nolens volens, zu dem Kreis der wenigen Samisdat-Intellektuellen in der DDR gesellt.

Von wessen Alltag ist denn aber die Rede? Kuczynski bekennt mit bestrickender Simplizität und dogmatischer Verengung: vom „Alltag der Werktätigen“. Im ersten Band sind das vornehmlich Bauern. Warum werden Bürgerliche, Beamte, Kaufleute, Adlige nicht behandelt? Die Antwort ist klar: Die „winzige Minderheit der Herrschenden“ soll ausgeschlossen bleiben.

Was aber ist eigentlich Alltag? Kuczynski definiert seinen Schlüsselbegriff überhaupt nicht. Alltag ist zunächst ein völlig verwaschenes Wort. Kategoriale Trennschärfe gewinnt man gewöhnlich durch Gegenbegriffe: Wie unterscheidet sich der Aristokrat vom Bürger, der Unternehmer vom Arbeiter? Was also ist „Nicht-Alltag“? Etwa die Feiertage? Auch sie sind ein spezifischer Teil des Alltags. Kuczynski spricht sich daher zu Recht gegen einen scharfen Kontrast aus und möchte Feier- und Werktage verbunden sehen. Aber soll Alltagsgeschichte nur ein anderes Wort für die französische „Totalgeschichte“ oder die deutsche „Universalgeschichte“ sein? Kann und sollte Alltag zum Universalbegriff werden? Oder bleibt das Wort nicht vielmehr Inbegriff „einer aus der Kirchturmsperspektive der Gegenwart in Universale aufgeblähten Spekulation“, wie der Soziologe Norbert Elias, der wegen seiner Verbindung von Theorie und Anschauung fälschlich für einen der Väter der Alltagsgeschichte gehalten wird, mit heilsamer Ironie kritisiert hat. Kuczynskis Unternehmen wie die Unschärfe, in der der Alltagsbegriff dabei bleibt, haben immerhin den Vorzug, daß sie die Aufmerksamkeit auf die Probleme der in Mode gekommenen Beschäftigung mit der Alltagsgeschichte selbst lenken. Welche Motive, Antriebskräfte und Anregungen stecken hinter diesem Phänomen?

Was die wissenschaftlichen Einflüsse angeht, so äußert sich in dem Postulat, „den“ Alltag zu erforschen, zunächst einmal ein. Protest gegen globale Theoriekonstruktionen, beispielsweise gegen die Systemtheorien und Modernisierungstheorien, gegen vulgär-marxistische. Stufentheorien der Weltgeschichte und das öde Geklapper mit den leeren Hülsen orthodoxer Geklapper rien, erst recht aber eine Ablehnung der konventionellen Politikgeschichte und der inzwischen auch als zu einseitig empfundenen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Statt dessen soll der Abmarsch in einen angeblich besser überschaubaren Gegenstandsbereich angetreten, sollen Kleinprojekte und verläßliche Interpretationen, sozusagen von kurzer Reichweite, bevorzugt werden.

In den Hohlraum, den die Enttäuschung über die hochfliegenden Versprechungen solcher Globaltheorien hinterlassen hat, ist sodann der unstreitig massive Einfluß der modernen Kulturbeziehungsweise Sozialanthropologie hineingestoßen. Das trifft vor allem auf die Vereinigten Staaten, England und Frankreich zu, wo die neue Kulturgeschichte des Alltags als Modeströmung überall noch weiter vordringt. „Culture is trendy“, räumen daher mit unüberbietbar mokantem Ton skeptische amerikanische Historiker ein.

Ein dritter Einfluß läßt sich schließlich auf die Formel einer Geschichte aus dem Blickwinkel des kleinen Mannes bringen. Diese Forderung richtet sich gegen die machtvolle historiographische Tradition, aus der Perspektive der „Herrschenden“, der Regierung und der Machteliten, auch die Geschichte zu schreiben; insofern wendet sie sich auch gegen die bisher praktizierte politische Sozialgeschichte, die Politik und Sozialökonomie zu verklammern suchte. Der sozialkritische Anspruch der neuen Richtung ist mithin nicht zu übersehen – gleich ob er aus den Quellen des Marxismus, des englischen „Radicalism“ oder eines verletzten Gerechtigkeitsgefühls stammt. Auch deshalb gibt es bisher keine Alltagsgeschichte des Hochadels oder Bildungsbürgertums, sondern diverse Studien über Arbeiter, kleine Handwerker, ländliche und städtische Unterschichten in ihrer lokalen oder regionalen Lebenswelt – in ihrem „soziokulturellen Kontext“, wie es der Jargon nennt.

Fragt man an zweiter Stelle nach den lebensweltlich-praktischen Einflüssen, ist die Alltagsgeschichte auch ein Ausdruck des Protestes gegen eine Gegenwart, welche die tägliche Umwelt mit anonymen, bürokratischen Großorganisationen umstellt hat, die für viele Menschen tatsächlich einen gut Teil ihres Alltags bestimmen. Wer würde da Züge der Entfremdung und Unpersönlichkeit leugnen wollen? Aus diesem Protest geht eine ziemlich diffuse, allgemeine Kulturkritik hervor, die den Verlust an Menschlichkeit, an Sensibilität, an „einfachem Leben“ beklagt und all das beim kleinen Mann wiederzufinden glaubt.

Aus dieser Grundstimmung resultiert auch ein Rückzug in die Heimat- und Regionalgeschichte, in denen eine überschaubare Lebenswelt gesucht wird. „Small is beautiful“, rufen nicht nur die Anhänger von Alternativkulturen, Der Erfolg der großen historischen Ausstellungen der letzten Zeit (über die Staufer, Wittelsbacher, Parler, über Preußen) bestätigt diese Neigung ebenso wie die Auflagenhöhe von Büchern über Familie, Kindheit, Alter, Tod und so fort. Indem solche wissenschaftlichen und lebensweltlich-politischen Einflüsse zusammenströmen, entsteht das Flußbett der neuen Alltagsgeschichte, vorläufig noch ein „merkwürdiger Zwitter“, weder „Fisch noch Fleisch“ (Elias). Dieses eigentümliche Konglomerat von Einflußfaktoren ist jedoch mit nicht unbeträchtlichen Gefahren verbunden. Die neue Alltagsgeschichte besitzt zweifellos Züge eines romantisch verklärenden Pseudorealismus. Das hängt zum Teil mit ihrer radikalen Verengung der Perspektiven auf die „Underdogs“, auf das Proletariat, das verarmte Handwerk, die Kümmerexistenz der Unterschichten zusammen. Angeblich soll da eine autonome „Arbeiterkultur“ existiert haben.

Wo davon die Rede ist, wird vor allem ein polemischer Gegenbegriff gegen „Hochkultur“ ohne streng vergleichende Prüfung etwas leichtfertig auf andere Traditionszusammenhänge übertragen. Die honette „Moralische Ökonomie“ der Unterprivilegierten wird der „Politischen Ökonomie“ der Kapitalismustheoretiker entgegengesetzt. Antisemitismus, Fremdenhaß, Brutalität im Alltagsleben (bei der Lehrlingsausbildung oder der Behandlung von Mägden) werden geflissentlich übersehen oder als Ausfluß böser Verhältnisse, die so ja nicht sein sollten, hingestellt. Zugleich tritt mit der Alltagsgeschichte ein Neohistorismus auf den Plan mit einer – wen überrascht es – entschiedenen Wendung gegen scharfe, systematische Begriffe, die als Instrumente sachunangemessener Theorien denunziert werden. Die Anschaulichkeit der Lebensverhältnisse soll durch dichtgewobene Beschreibung, wie sie den großen Kulturanthropologen gelegentlich gelingt, vermittelt werden. Bei der Beschäftigung mit diesem Werk werden die theoretischen Prämissen und Aversionen, die gerade auch in diesen Arbeiten stecken, oft stillschweigend übergangen. Mit der historischen Wendung ist indes auch die Gefahr des alten Historismus wieder präsent: sich nämlich in antiquarische Details der Proletarierexistenz genauso liebevoll-borniert zu vertiefen wie das zum Beispiel Biographien mit jeder Quisquilie im Leben des Helden getan haben.

Häufig also enthüllt die Alltagsgeschichte einen idealisierenden Ansatz, der die Herkunft eines guten Teils ihrer Praxis aus der materialistischen Gesellschaftsanalyse verleugnet oder vergißt – wer weiß. Häufig wird eine Autonomie des Alltags fingiert. Häufig werden die Routin, ja die Langeweil der alltäglichen Existenz milde verklärt oder gar „poetisiert“ (Hannelore Schlaffer). Wie aufrecht und sympathieauslösend führte doch der kleine Mann sein Alltagsleben, in sein Normensystem haltgebend eingebunden, seinen Festen fröhlich hingegeben, den „Herrschenden“ so oft wie möglich ein Schnippchen schlagend! War der geschmeidige Diplomat, der erfolgreiche Politiker Leopold v. Rankes Lieblingsfigur, so ist der trutzige Industrieprolet, der Bauernbandit, der allgegenwärtige Schwejk der Heros der neuen alltagsgeschichtlichen Studien.

Diese Neoromantik, dieser Pseudorealismus – sind sie vorübergehende Modeerscheinungen? Ohne systematische Begriffe, ohne die Einbettung der Alltagsgeschichte in die Gesellschaftsgeschichte aller Schichten und Klassen, ohne die Überwindung der bislang vorherrschenden Einseitigkeit und ohne eine ausgewogene Berücksichtigung der Lebenswelt aller sozialer Formationen führt der neue Weg definitiv in eine kurze Sackgasse, Um noch einmal mit Elias zu sprechen: Alltag müßte zumindest als „integraler Bestandteil... der gesamtgesellschaftlichen Machtstrukturen“ verstanden werden.

Fraglos gibt es heute auch schon durchaus gelungene Beispiele für eine im Prinzip legitime, theorie- und methodenbewußte, empirisch solide, quellennahe und klar interpretierende Alltagsgeschichte. Sie bedeutet eine wichtige Ergänzung der bisherigen Sozialgeschichte. Keiner wird freiwillig auf diese Erweiterung und Bereicherung verzichten wollen. Die Mikrohistorie, um die es sich dabei handelt, kann Grunddimensionen der menschlichen Existenz, kann wirtschaftliche Lage, soziale Ungleichheit, politische Herrschaft und Kultur wie in einem Brennspiegel einfangen und an dem kleinen Objekt die unauflösliche Wechselwirkung besonders eindringlich zeigen. Um Beispiele deutscher Historiker aus den letzten Jahren zu nennen: Wie Lutz Niethammer die Wohnungssituation wilhelminischer Arbeiter untersucht, Hans Medick dem Leben von Heimarbeiterfamilien an der Schwelle zur Industrialisierung nachgespürt, Heinz Reif den westfälischen Landadel von 1770 bis 1860 in vielen Lebenskonstellationen verfolgt, Klaus Tenfelde eine großartige Sozialgeschichte der Bergarbeiter an der Ruhr geschrieben, Wolfgang Schivelbusch die Geschichte des Eisenbahnreisens geschildert hat – so sollte die Alltagsgeschichte weiter ihren Weg suchen und die erörterten Gefahren vermeiden. Aber sie darf sich nicht auf der Jagd nach Exzerpten verzetteln.