Alf Lüdtke
»Kolonisierung der Lebenswelten« — oder: Geschichte als Einbahnstraße? Zu Detlev Peukerts »Arbeiter-Alltag — Mode oder Methode?«*
*In: Arbeiteralltag in Stadt und Land. Argument-Sonderband AS 94, 8-39. Seitenzahlen ohne Angabe beziehen sich auf diesen Band.
Der Band »Arbeiteralltag in Stadt und Land« (Argument-Sonderband 94) bietet wichtige Anregungen. Vor allem ist es auch höchste Zeit, daß das Argument auf breiter Grundlage die Diskussion über Klasse, Kultur und alltägliche Erfahrungen aufnimmt. Sie ist insbesondere von englischen marxistischen Sozialhistorikern nach 1945 und dann wieder seit den 1960er Jahren vorangetrieben worden — und zwar nicht als akademische Debatte, sondern von vornherein unter Teilnahme von nicht-professionellen Historikerinnen und Historikern, vor allem aus der Arbeiterschaft selbst. — Die Beiträge des Bandes verknüpfen systematische Überlegungen mit Anschaulichkeit; dichte Beschreibung bleibt nicht bei sich, sondern führt zu systematischen Problemen (»Ordnung« und Herrschaft; Produktion und Reproduktion bzw. Fragen von Familienzusammenhängen; Stadt und Land).
Nützlich ist nicht zuletzt auch Detlev Peukerts methoden- und theoriekritischer Überblick. Sein Beitrag über den »Stand der Dinge« ist anregend, in manchem aber auch — in produktiver Weise — an-stößig. Weiterer Diskussion bedarf m.E. besonders sein Vorschlag zur Entfaltung der theoretischen Konzepte. Es geht hier um die Frage nach dem Zusammenhang, d.h. nach den Vermittlungen von individuellen Erfahrungen mit der Transformation des gesellschaftlichen Systems. Dabei halte ich den Versuch, Foucault, vor allem aber Habermas in der von Peukert vorgeschlagenen Form zu nutzen, für kurzschlüssig. — Peukert sieht die gesellschaftliche Umwälzung zwar als Abfolge unterschiedlicher Schübe (»sukzessive«, 28); aber insgesamt kommt er doch immer wieder auf ein lineares Muster zurück. Er unterscheidet grundsätzlich offenbar zwei Epochen. Die eine sei die »vor der flächendeckenden Durchsetzung der modernen industriellen Klassengesellschaft« — die andere bzw. unsere ist offenbar durch eben diese »flächendeckende Durchsetzung« charakterisiert. Für die Durchsetzung von Klassenverhältnissen, nicht nur bei der Verfügung über Produktionsmittel und im Arbeitsprozeß, verweist Peukert auf die Perspektive der »Kolonisierung der Lebenswelten« (Habermas). Das heißt in diesem Zusammenhang: »die Fabrikdisziplin, Sozialdisziplin und Parteidisziplin besetzten jene Alltagsräume, die bisher der lebensweltlichen Erfahrung und den symbolisch vermittelten kollektiven Traditionen und Normen Vorbehalten waren« (29).
Zunächst möchte ich darauf aufmerksam machen, daß lebensweltliche Erfahrungen und symbolisch vermittelte Traditionen und Normen auch bereits vor dem Zugriff moderner »Disziplin« widersprüchlich waren; sie blieben stets den vielfältigen Zugriffen von Herrschaften und Obrigkeiten ausgesetzt.
Die frühneuzeitliche »Volkskultur« bedeutete für das »Volk« alles andere als einen Schonraum oder eine besonders authentische Zone in den jeweiligen Ausbeutungs- und Untertanenverhältnissen.1 Selbst in spektakulären »Verkehrungen der Welt«, wie im Karneval, bestätigte sich doch weithin die gegebene soziale und politische Ungleichheit. Ähnliche Mischungen von Aufsässigkeit und Bestätigung finden sich in Szenen alltäglicher »Freiheit« abhängiger Bauern — der Popularphilosoph Christian Garve hat das Ende des 18. Jahrhunderts bildkräftig geschildert.2
Insgesamt scheint mir Detlev Peukerts Argument auf eine Umkehrung der Modernisierungsperspektive hinauszulaufen. Sie spiegelt dementsprechend auch die Defizite der Modernisierungstheorien klassischer Prägung. In diesem Zusammenhang heißt das: Das Nicht-Akzeptieren, das Aufbegehren gegen jene offenbar letztlich siegreiche »Rationalisierung« aller Lebensbereiche gilt als temporär; es kann den fortschreitenden, bestenfalls gebremsten Durchbruch der »Moderne« weder grundsätzlich beeinflussen noch gar blockieren. — Abgesehen davon, daß »Moderne« hier eigentümlich schwammig und unklar bleibt —, die reale und vor allem widersprüchliche Lebenspraxis von einzelnen und Gruppen verschwindet hinter dem ausholenden theoretisierenden Zugriff. Anders: Die »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«3, wie Ernst Bloch mit nüchternem Pathos formuliert hat, bleibt außer Ansatz. Diese Perspektive könnte aber, so scheint mir, die Erfahrungen der Betroffenen und Handelnden mit den Handlungsbedingungen und -chancen zusammenbringen, jedenfalls für den Rekonstrukteur.
Dabei geht es nicht um das bloße Nebeneinander unterschiedlich »alter« Momente oder Faktoren. Angepeilt sind vielmehr die Formen, in denen sich alte und neue Praxis weisen miteinander verschränken und/oder bedingen. Wie werden z.B. vereinbart: die Beherrschung der Steuerungstechnik von selfactorSpinnmaschinen oder von Einrichtungsvorgängen entwickelter Drehbänke mit angeblich »traditionalen« Protestformen, Liedern oder auch Konsumgewohnheiten am Feierabend oder Feier- bzw. Kampftag (Luxuskonsum am Sonntag bei unveränderter Kartoffelnahrung werktags, vgl. A. Thun)?4 Oder: In welcher Weise regulierten bei Industrieproletariern z.B. familial geprägte Zeitperspektiven und Solidarbeziehungen in Phasen wirtschaftlicher Krise5 das Verhalten, also 1917/18, 1929ff.? Fraglos erweisen sich diese »traditionalen« Orientierungen für die Betroffenen als sinnvoll und funktional. Zugleich begründet eben die Verklammerung ungleichzeitiger Standards und Praxisformen die Grenzen manifester Kampfbereitschaft oder militanter Aktivität. Sie erweisen sich als »sinnvoll« im Kontext der Lebensweise bzw. Lebensweisen der »Massen« — wenn auch nicht unbedingt als »rational« im Sinne der Imperative der Arbeiterbewegung(en) oder vieler ihrer heutigen Historiker. Dennoch wären manche Arbeiten zu nennen, z.B. auch von Detlev Peukert selbst »Edelweißpiraten, Meuten, Swing. Jugendsubkulturen im Dritten Reich« (in: Sozialgeschichte der Freizeit, Hrsg. G. Huck)6, die zeigen, daß die »Besetzung« jener »Alltagsräume« nicht stattfand, zumindest nicht in der von Peukert hier unterstellten Weise.
Die »schrittweise Rationalisierung von Verhaltensstandards und Lebensweisen«(31) bezeichnet die Interessen und Absichten der »Besetzer«, aber nicht die Praxis der Betroffenen. Die »Rationalisierung« trifft nicht nur auf punktuelle und temporäre Widerstände, sondern auf mehrschichtige und keineswegs stets schon überholte Lebensweisen. Diese werden beeinträchtigt oder verändert, aber durchaus nicht grundsätzlich in ihrer Eigensinnigkeit und Eigenständigkeit überwunden oder von ihren Trägern aufgegeben. Auch im Niedergang können z.B. »zünftige« Handwerksgebräuche Solidarität und Widerständigkeit vermitteln, sie bleiben doppelsinnig. Der »blaue Montag« war in der — z.T. langgezogenen — Frühindustrialisierung eine durchaus wirksame Praxis, Zeit wieder anzueignen. Gefragt sind diese und andere Formen der (Wieder-)Aneignung, durch die die Betroffenen »Raum für sich« geschaffen haben bzw. schaffen, während der Lohnarbeit oder der scheinbar freien »Freizeit«. Angebliche Zügellosigkeit, »Bummelei« oder »Korruption«, aber auch »Arbeitsfreude« oder »-stolz« — sie verweisen auf ebendiese eigensinnige Lebenspraxis, jenseits der »Rationalisierung«. Zugleich geht »Eigen-Sinn« in momentaner Wiederaneignung nicht auf. Gebrauchswertproduktion, die nicht marktgängig ist (zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft), die dauerhafte Nutzung von Familienbeziehungen in »Beschäftigungskrisen«: Damit sind Aspekte eines auf Dauer gestellten »Eigen-Sinns«7 immerhin angedeutet.
Die Mehrschichtigkeiten, um die es geht, mögen sich deutlicher zeigen, wenn gefragt wird nach der eigentümlichen Gleichzeitigkeit von »Politisierung des Privaten« und »Privatisierung von Politik«, wie sie im Zusammenhang des sich entwickelnden industriellen Kapitalismus zu erkennen ist. Damit sind unterschiedliche, z.T. gegenläufige, in jedem Fall aber aufeinander bezogene Prozesse gemeint. »Politisierung des Privaten« steht für Strategien und Politiken staatlicher Instanzen, aber auch Aktivitäten »freier« Bürger (und Junker-) Assoziationen, die Tauglichkeit der Arbeitskraft für kapitalistische Produktion und Verwertung zu sichern bzw. zu steigern. Stichworte lassen sich unschwer beibringen; sie genügen freilich nicht, um hier die Doppeldeutigkeiten z.B. zeitgenössischer Hygienisierungspolitiken, d.h. ihre Verknüpfung von »sanfter« und »direkter« Gewalt (dies nach Bourdieu)8, angemessen zu zeigen. Ein weiteres Beispiel neben der Erzwingung von Sauberkeit und Hygiene mit Polizeieinsatz wäre das von Schule und staatlich vermittelter »Bildung«: Verknüpft mit dem physischen Zwang wirkte stets auch der Anreiz, (Über-)Lebenschancen zu verbessern.
»Privatisierung von Politik« meint Aneignung und Wieder-Aneignung von Ressourcen und Ausdrucksformen durch diejenigen, die in der »Politisierung des Privaten« zu »Beherrschten« gemacht werden bzw. werden sollen. Kriterium ist die Artikulation und Befriedung von Bedürfnissen, d.h. von Hoffnungen, Wünschen und Ängsten — die durchaus nicht die Durchsetzung von Interessen, also von strategisch kalkulierten Forderungen ausschließt. Entscheidend ist, daß die Grenzziehung »privat« — »politisch« in dieser Perspektive fragwürdig wird. In diesem Licht erweist sich »Privatisierung von Politik« als eine Form »eigen-sinniger« Politisierung. Der Blick richtet sich dabei auf ein breites Spektrum von Verhaltens- und Ausdrucksweisen; »Widerstand« bezeichnet nur eine unter anderen Möglichkeiten. Die Ausdrucks- und Verhaltensweisen, in denen sich m.E. »Privatisierung von Politik« zeigt, zielen vor allem darauf, den Beteiligten »einen Raum für sich« zu schaffen. Ein wesentliches Kennzeichen ist »Distanz nehmen« — von Zumutungen, die von außen kommen, von Vorgesetzten und Regierungen, aber auch von Klassengenossen, von Kollegen ebenso wie z.B. von Gewerkschaftsfunktionären.
Die Frage nach diesen parallelen, zumindest in der Tendenz widersprüchlichen, im einzelnen nicht selten »ungleichzeitigen« Politisierungsprozessen verweist darauf, daß die für Peukert wohl zentrale Unterscheidung zwischen »Markt- und Machtsystemen« einerseits und »Alltag« andererseits zu kurz greift: Markt- und Machtsysteme werden stets auch begründet, kritisiert wie akzeptiert, aber auch verändert in den alltäglichen Lebenszusammenhängen (vgl. aber 24).
Die Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten der (wie in den) »Politisierungen« treten hervor, wenn soziale Kontexte im einzelnen ausgeschritten, wenn ihre Mehrdeutigkeiten erwogen werden. Hier müssen überaus knappe Andeutungen genügen. (Sie stammen aus meinem laufenden Projekt über Maschinenbauarbeiter der ersten und zweiten Generation im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.9) Ich beschränke mich dabei auf Dreher. Am Arbeitsplatz charakteristisch waren halbmanuelle Tätigkeitsprofile. Vor allem mußten und konnten sie ihre Fertigkeiten sich und anderen nicht nur in der Beherrschung herkömmlich-handwerklicher Geräte (vgl. Schlosser, Monteure), sondern in der Handhabung moderner Maschinerie beweisen. Zugleich waren die Dreher nicht ausgenommen von überaus ungleichmäßigen Schwankungen der Geldlohnsummen, die sie alle 14 Tage erhielten. Die Schwankungen für jeden einzelnen, aber auch zwischen direkten Kollegen betrugen innerhalb weniger Lohnzahlungstermine 100-300% — und dies über lange Zeiträume. Von hier aus werden Überlegungen über die Struktur von Zeit und Zukunftserwartungen zwingend (gleichsam »unterhalb« der bekannten, stets aggregiert verwandten Daten zu saisonaler und konjunktureller Fluktuation und Mobilität). — Aus dieser Situation (zumindest) relativer alltäglicher Unsicherheit lassen sich — spärliche — Berichte über Facetten des Verhaltens »auf der Arbeit« interpretieren, z.B. über gewalttätige Körperlichkeit, individuelles Saufen oder Werkzeugdiebstahl.
Bleiben wir bei der Körperlichkeit, bei gewalttätigen Körperkontakten. »Necken« oder »Bartwichsen« industrieller Produzenten am Arbeitsplatz bzw. während der Arbeitszeit bestätigte oder wiederholte sicherlich die soziale Hierarchie zwischen Älteren und Jüngeren, zwischen Angelernten und Handlangern oder Lehrlingen, zeigte männliches Imponiergehabe. Zugleich aber signalisierten diese scherzhaft-schmerzhaften Körperkontakte wechselseitige Wahrnehmung, mitunter auch Anerkennung: Beim nächsten Mal konnte das Opfer durchaus einer der »Mittäter« sein.
Sie waren beides — aber eben nicht nur brutaler machismo oder Ausdruck unpolitischer Perspektivlosigkeit bzw. blinder Irrationalität. In »eigen-sinniger« Weise Distanz zwischen sich und die massiven Unsicherheiten des Alltags zu bringen, konnte sich auch gegen einen selbst (Saufen), zumindest gegen direkte Kollegen (Werkzeugdiebstahl) richten. Zur Verklärung gibt es also keinen Grund. — Einer der Verfasser von »Arbeiterlebenserinnerungen«, der Holzund Metalldreher Moritz Th.W. Bromme, berichtet von einem relativ hohen Organisationsgrad in »seiner« Geraer Maschinenfabrik (Zahlen nennt er jedoch nicht).10 Zugleich zeigt er mit vielen Beispielen, daß kollektives Handeln, z.B. zur Durchsetzung bezahlter Reinigungszeit oder zur Änderung der Akkorde, nur selten möglich war. Bromme klagt nicht darüber; sein Erstaunen über die Grenzen von Solidarität, aber auch über die dann in Einzelfällen offenbar »plötzlich« doch möglichen Aktionen wird jedoch sehr deutlich. Vor dem Hintergrund der — im Wortsinn — widersprüchlichen Formen von »Eigen-Sinn« scheint mir das hingegen sehr wohl verständlich —, »daß die Arbeiter oft gegeneinander wahre Teufel sind« (Bromme), immer wieder aber auch Gemeinsamkeiten zeigen und praktizieren, wortlos und auch mit Worten: »Du«.
Zugleich kompensieren aber die Formen »eigen-sinniger« Aneignung (von Zeit und Raum, von bedeutungsvollen Objekten) nicht nur die tägliche Misere. Wünsche (oder Erinnerungen?) blitzen auf, nicht beschmutzt, gebunden oder »von anderen« lächerlich gemacht zu werden; gefordert ist gelösterer Umgang, Überwinden von Zwängen und — auch — offene Zärtlichkeit untereinander: Befriedigung von Interessen und Bedürfnissen.
Nur zu erwähnen ist, daß sich diese hier angesprochenen Grundlagen und Formen von Arbeiterpolitik wesentlich außerhalb der Arbeiter-Organisationen entfalteten bzw. vollzogen. Zu erinnern ist überdies, daß im Kaiserreich insgesamt nicht mehr als 10% der lohnabhängigen Fabrikarbeiter in den Gewerkschaften organisiert waren, wobei Unterschiede nach Branchen und Regionen zu machen sind (die SPD-Mitgliedsrate lag beträchtlich darunter).11 Zugleich bleibt festzuhalten, daß Privatisierung von Politik durch »eigen-sinnige« Arbeiterpolitik bzw. »eigen-sinniges« -verhalten kein Nullsummenspiel war: Weiterhin und zunehmend wurden Ressourcen auf Staats- bzw. nationaler Ebene zugewiesen, in der Arena formalisierter Politik. Formalisierte Politik war und blieb folgenreich auch für »eigen-sinnige« Arbeiter. Die Definitionsmacht dieser Arena schlug z.B. beim »Marsch in den Krieg« im August 1914 unmittelbar für die Masse der Beherrschten durch, mit allen tödlichen Konsequenzen. Dabei wurde die Attraktion, die Militär oder »bunter Rock« offenbar für zahllose Lohnabhängige auch hatten, das kurzgeschlossene Verbindungsglied. Für Land- wie Fabrikarbeiter bedeutete die Dienstzeit vielfach eine Mischung aus Mannbarkeitsritualen (nicht zuletzt im Ertragen der täglichen Schindereien) und Kennenlernen von »Fremde«, von »Kameraden«, aber auch von unbekannten Regionen. Jetzt ließ sich diese »eigen-sinnige« Bedeutung relativ mühelos als Vehikel von Reichs-, Kaiser- oder Kriegsbegeisterung nutzen; zumindest trug sie dazu bei, das notwendige Maß an Hinnahme zu sichern.
Max Weber hat Bürokratie als »Gehäuse der Hörigkeit« beschrieben. Fraglos beschränkt sich die herrschaftliche Durchdringung der Gesellschaft nicht auf Verwaltungs- und Justizbürokratie. Thesen zu den »ideologischen StaatsApparaten« (Althusser) und besonders die Untersuchungen von Foucault zur »Mikro-Physik der Macht« haben diese Perspektive über jede Fixierung auf Institutionen hinausgetrieben.12 Inwieweit aber die in diesen Ansätzen aufgezeigten Strategien und gesellschaftlichen Prozesse für die Masse der Betroffenen tatsächlich bestimmend wurden oder werden, in welcher Weise es parallele — vielleicht stumme — Prozesse der kreativen Sicherung oder auch längerfristigen Erweiterung eigener und »eigen-sinniger« Handlungsräume gibt: Diese Dialektik wäre in ein theoretisches Konzept der gesellschaftlichen Prozesse der neueren Zeit erst noch einzubeziehen. Dabei ist die Gleichzeitigkeit von Widerständigkeit, Hinnahme und Distanz aufzuspüren. Die Verknüpfungen und Widersprüche von Bei-sich-selbst-Bleiben und (Wieder-)Aneignung — von Produktion und Transformation der Handlungsbedingungen — sind das Thema.
Anmerkungen
- Vgl. z.B. R. Muchembled: Kultur des Volks — Kultur der Eliten, Stuttgart 1982, 179-319; N.Z. Davis: The Rites of Violence, in: dies.: Society and Culture in Early Modem France, London 1975, 152-87.↩
- Chr. Garve: Über den Charakter der Bauern und ihr Verhältnis gegen die Gutsherrn und gegen die Regierung (1786/96). Nachdruck: ders.: Popularphilosophische Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1974, 799 ff.↩
- E. Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Erw. Ausg., Frankfurt/M. 1962, 104ff.↩
- Vgl. J. Ehmer: Rote Fahnen — Blauer Montag, in: D. Puls (Hrsg.): Wahrnehmungsformen und Protestverhalten, Frankfurt/M. 1979, 143-74; A. Thun: Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter. Tl.l, Leipzig 1879, 68f.↩
- So bei M. Young und P. Willmott: Family and Kinship in East London, Harmondsworth 1972.↩
- L. Niethammer unter Mitarbeit v. F. Brüggemeier: Wie wohnten Arbeiter im Kaiserreich? In: Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976), 61-134; R. Schulte: Dienstmädchen im herrschaftlichen Haushalt, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 41(1978), 879-920; K. Hausen: Mütter zwischen Geschäftsinteressen und kultischer Verehrung. Der »Deutsche Muttertag« in der Weimarer Republik, in: G. Huck (Hrsg.): Sozialgeschichte der Freizeit, 2. Aufl., Wuppertal 1982, 249-80.↩
- Vgl. dazu Chr. Garve, a.a.O.; seine Bemerkungen zum bäuerlichen »Eigensinn« haben mich zu Überlegungen über proletarischen »Eigen-Sinn« angeregt; O. Negt und A. Kluge: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1980, sind dafür nicht verantwortlich.↩
- P. Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt/M. 1976, 366-73.↩
- Demnächst ausführlicher in meinem Aufsatz »Cash, Coffee-Breaks and Horseplay: Workers and Politics in Germany around 1900«, in: M.Hanagan, Ch. Stephenson (eds.): Class Formation and Worker Military, London (im Druck).↩
- M.Th.W. Bromme: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1971 (1. Aufl. 1905), 243ff.↩
- Vgl. D. Fricke: Die deutsche Arbeiterbewegung 1869-1914. Berlin/DDR 1976, 7I9ff.; K. Schönhoven: Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914, Stuttgart 1980, 167ff., 190ff.↩
- Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, in: ders.: Marxismus und Ideologie. Berlin/West 1973, 111-43; M. Foucault- Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1977, bes. I73ff.↩
Detlev Peukert
Glanz und Elend der »Bartwichserei« Eine Replik auf Alf Lüdtke
Ich argumentiere in meinem Aufsatz, daß es drei sinnvolle Möglichkeiten für Historiker gebe, sich mit dem Alltag zu beschäftigen: Erstens, das Thema als Differenzierungsangebot und Ergänzungsraum im Rahmen anders definierter Forschungsstrategien aufzusuchen; zweitens, nach Wahrnehmungsformen und Verhaltensweisen zu fragen (bzw. sich ihnen in dem auf die Zeitgeschichte begrenzten Sonderfall der Oral History kommunikativ zu nähern); drittens diese per definitionem partikularen Ergebnisse solcher mikrohistorischer Studien konzeptionell rückzubinden in einer Theorie der Moderne, die sich frei hält zur Untersuchung der konfliktreichen Spannungen zwischen Systemen und Lebenswelten.
Welche Konzeption bietet nun Alf Lüdtke an? Selbst wenn man einmal nicht die kurzgefaßten Bemerkungen in seiner hier vorliegenden Kritik nimmt, sondern seine verschiedenen Aufsätze1 mit einbezieht, finden wir zwar vielfältige und gewinnbringende Differenzierungen, Einfalle und Argumentationsfacetten; demgegenüber bleibt der positive Ertrag vage:
Die Betonung, daß alles noch viel komplizierter sei, als sich globale (Modernisierungs-)Theoretiker träumen lassen, ist immer berechtigt; aber das weiß jeder zünftige Historiker.2
Die Hervorhebung der »Mehrschichtigkeit« von Erfahren und Handeln, mit ihren »subjektiven« und »objektiven« Seiten, ist ebenfalls ein nützlicher, wenn auch dem Historiker vertrauter Hinweis. Es ist manchmal nötig, Grundregeln des wissenschaftlichen Handwerks wieder zu betonen (wie im Moment beispielsweise die Warnung vor einer Volkstümelei, der die methodische Strenge verlorengeht); solche Mahnungen rücken vielleicht manches ins Lot, eröffnen aber noch keine neuen Perspektiven.
Sodann die »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«: Diese These, muß ich bekennen, habe ich nie richtig verstanden. Entweder sie bezeichnet eine Banalität, daß nämlich verschieden alte Lebensstile, Anschauungen, Verhaltensweisen in der Geschichte allemal koexistieren, oder sie gewinnt ihre Bedeutung aus der stillschweigenden oder ausdrücklichen Referenz an ein normatives Wissen, was »eigentlich« und »gesetzmäßig« an der Zeit hätte sein sollen. Selbst bei einem so reflektierten Denker wie Bloch resultiert die Ungleichzeitigkeitsthese doch nicht zuletzt aus eben diesem Erstaunen, daß die deutschen Arbeiter sich am Vorabend des Nationalsozialismus nicht so verhalten haben, wie es dem Marxismus gemäß »auf der Tagesordnung« gestanden hätte. Wenn sich auch Lüdtkes »Ungleichzeitigkeit« aus solchem Wissen über das »Zeitgemäße« ableitet, dann müßte diese Option aber auch von ihm offengelegt werden. Wie nennen wir die Gesellschaft z.B. der Zwischenkriegszeit? Was bestimmt ihre Struktur und Entwicklung? Wie vermeiden wir bei der Bestimmung des »Zeitgemäßen« heimliche Teleologien? Übrigens zeigen doch gerade die von Lüdtke zum Beleg seiner Ungleichzeitigkeits-Konstruktion angeführten Arbeiten von Niethammer und Brüggemeier, daß diese sich des begrenzten Charakters der geschilderten informellen Lösungen sehr wohl bewußt sind.3 Die halboffene Familienstruktur endet eben in der wohlabgepackten Kleinfamilieneinheit des sozialen Wohnungsbaus, und die informellen Solidarstrukturen der Bergarbeiter sind nach Brüggemeier so sehr historisch obsolet und von den formellen Organisations- und Sinnangeboten verdrängt worden, daß sie nicht einmal mehr als vergangene Alternative erinnert werden. Zudem waren die informellen Solidarstrukturen im Wohn- und Arbeitsbereich der Bergarbeiter alles andere als »ungleichzeitig«, sondern vielmehr durchaus zeitgemäße Selbsthilfeantworten auf Existenzprobleme, die die hastige Urbanisierung und Industrialisierung mit sich brachte.
Zuletzt der »Eigensinn« und die »Alltagspolitik«: Auch diese beiden Begriffe sollen Lüdtkes guter Absicht dienen, Platz für eine relative Autonomie alltäglichen Handelns gegenüber herrschaftlichen Zumutungen und Zugriffen zu schaffen. Fatalerweise erreichen sie eher das Gegenteil, weil sie Alltagshandeln nur in Relation zu herrschenden, »politischen« Strategien fassen können. Es kann für unser Geschichtsbild tatsächlich sehr wichtig sein, herauszuarbeiten, daß Arbeiter im Kaiserreich ein anderes Verhältnis zur Körperlichkeit hatten als bürgerlich Sozialisierte. Das ist unstrittig. Es kann sogar nützlich sein, wenn eine solche »Entdeckung« zunächst vor allem in Begriffen beschrieben wird, die den Kontrast zu den herrschenden Verhaltenserwartungen betonen. Nur damit ist die Erklärungskraft der von Lüdtke vorgeschlagenen Begriffe auch schon erschöpft. Das Fremde aufzufinden und seine Fremdheit zu betonen, ist ein erster Schritt. Aber damit ist das Fremde noch nicht verstanden. Es wäre darüber hinaus nötig, den Kontrast zwischen bürgerlichen und proletarischen Lebenswelten zu verstehen. Geht das ohne Bezug auf eine Theorie des Zivilisationsprozesses, wie sie etwa Elias skizziert hat? Wäre es für das Verständnis der Fremdheit des Arbeiterlebens und für die Klärung der Frage, warum bestimmte Verhaltensweisen als »auffällig«, anstößig, ja »verwahrlost« durch Pädagogen, Kriminologen, Hygieniker usw. beschrieben wurden, nicht nützlich, mit dem Rationalisierungs-Konzept zu arbeiten?
Was hingegen kann eine Glorifizierung des Austretens während der Arbeitszeit oder des »Bartwichsens« als eine Art »alltagspolitischer« Widerstand an Erkenntnis zuwege bringen, außer jener, zu signalisieren, daß dem zeitlich, sozial und räumlich entfernten Forscher dies aus der Distanz irgendwie sympathisch vorkommt? Ich plädiere daher für einen engen Politik-Begriff, ohne zugleich alles, was nicht darunter fallt, zu ignorieren. Nicht jeder Nonkonformismus ist gleich »Alltagspolitik«, subjektiv oftmals noch weniger als objektiv. Dennoch kann harmloses abweichendes Verhalten ganze Schwadronen von pädagogischen und polizeilichen Ordnungskräften auf den Plan rufen. Gerade in diesem Sinne »Unpolitisches« kann brisant sein, und — damit stimme ich mit der Intention, jedoch nicht mit dem Lösungsangebot Lüdtkes überein — für die Sozialgeschichte zuweilen brisanter als manche immer wieder hin und her gewendete Fragestellung der Politikgeschichte.
Gewiß gehört es allemal zum Faszinosum von Geschichte und eben auch von Alltagsgeschichte, daß wir unvermutet auf das »Fremde« im Vertrauten, auf das uns Nahegehende im Fremden stoßen. In der Herausforderung, die das vergangene Andere an unsere Selbstgewißheit stellt, liegt einer der Gründe, warum wir Geschichte treiben (sollten). Gerade heute jedoch, wo Geschichte oftmals nostalgisch und warenästhetisch angeeignet wird (was uns ja nur daran erinnert, daß eine der üblichen Formen des Umgangs mit Geschichte im Konsum des Unterhaltungswertes von schönem, altem Exotischem besteht), sehe ich eine besondere Verantwortung des Historikers darin, rationale, wissenschaftliche Diskursregeln im Umgang mit dem Fremden, dem Vergangenen einzuhalten. Geschichte leistet eben nur dann einen Beitrag zur Orientierung in der Zeit, wenn sie sich nicht mit der bloßen liebevollen Zeichnung vom »Anderssein« zufriedengibt, wozu Alltagsforschung in der ersten Entdeckerfreude gerne neigt, sondern nur, wenn sie darüber hinaus eine zweifache Deutungsperspektive anbietet, die Fremdes der Erkenntnis und damit dem historischen Lernen erschließt: Was »bedeutete« etwa eine andere Gewichtung von Körperlichkeit für die Unterschichten und für die Ordnungskräfte der industriellen Klassengesellschaft der Jahrhundertwende? Zugleich: Was kann uns diese historische Konstellation heute »bedeuten«? Diese Herausforderung durch das vergangene Fremde kann in der Alltagsgeschichte nicht durch vorschnelle und globale Antworten abgetan werden, aber sie drängt uns zur Suche nach Antworten, die sich auch auf jene für eine historische Orientierung in der Zeit notwendige Verallgemeinerungsebene einlassen. Diese Ebene sollte selbst dann begangen werden, wenn wir sie als unsicheres Terrain erkannt haben. Hier hilft nur Mut zum fragenden Entwurf, zur kontrollierten Hypothese weiter.
Kurz, die Leistung in Lüdtkes Beiträgen liegt in der Verästelung der Sichtweisen und der Differenzierung globaler Thesen. Vielen Einzelhinweisen Lüdtkes wird man daher zustimmen können, und eine unvoreingenommene Lektüre meines Aufsatzes wird die meisten Aspekte dort auch explizit erwähnt finden. Lüdtke jedoch verharrt in polemischer Wendung gegen zusammenhängende Theorien allein bei seinen Detailbeobachtungen. So gelingt es ihm nicht, die Befunde wieder gedanklich zusammenzubringen und sich einen eigenen Reim auf die alte, aber irgendwann eben doch unumgehbare Frage zu machen: Und was will uns der Dichter damit sagen? Lüdtkes Versuch, allzu glatte und monolithische Geschichtsbilder differenzierend zu zerhacken, bindet sich nicht wieder zurück in ein Gesamtbild von Geschichte, auf das. der Konsument historischer Produktionen allemal ein Anrecht hat und auf das bezogen »Abweichendes« doch erst seinen Sinn und Eigenwert erhält.
Allerdings gibt es auch bei Lüdtke stillschweigende Globalannahmen. Wie anders wäre auch überhaupt das Sprechen über Fremdes, Vergangenes möglich? Im Begriff der Ungleichzeitigkeit etwa liegt, wie erwähnt, der Begriff des Zeitgemäßen. Dieses wiederum wird anscheinend mit der herrschenden Politik/Kultur identifiziert. Im »Eigensinn« und dem Konzept der »Politisierung des Privaten« und umgekehrt scheint als Ordnungskriterium eine sehr generelle Herrschafts-Widerstands-Dialektik durch, aus der heraus sich auch nur die Ausweitung des Politikbegriffs bis hin zur »Bartwichserei« unter Arbeitskollegen begründen ließe. Mit solchen etwas schemenhaften und statischen Annahmen läßt sich eine Fallstudie, der es vor allem auf Verästelungen und Ausdifferenzierungen des Verhaltens von Beherrschten ankommt, vielleicht sogar gewinnbringend bestreiten. Sie werden aber untauglich oder sogar desorientierend, wenn Prozesse der Veränderung analysiert und beschrieben werden sollen oder wenn Bereiche thematisiert werden, die zwar auch, aber nicht nur in der Linie Herrschaft-Beherrschte zu verstehen sind, wie die Veränderungen der Zeit- und Reiseerfahrungen durch die Eisenbahn oder die Durchsetzung sozialer Disziplin innerhalb der bürgerlichen Klassen selbst.
Sowohl die explizite Begrifflichkeit Lüdtkes als auch seine impliziten vagen Globalannahmen resultieren aus einer Blickverengung auf die Lebensweise der »Beherrschten« und enger noch auf jene Aspekte, die sich einer »politischen« Orientierung mehr oder minder gewaltsam zuordnen lassen. Ganz im Gegensatz zur Intention, ein möglichst verständnisvolles Bild der Lebensweise »Beherrschter« zu zeichnen, besteht die Gefahr, daß die in dieser Begrifflichkeit nicht faßbaren Aspekte der Lebensweisen unbemerkt bleiben oder zurechtgestutzt werden. Es gibt gute Gründe, die Indikatorenbündel der herkömmlichen Modernisierungstheorien für unzureichend zu erklären oder die implizite Koppelung von Fortschritt und Moderne zu kritisieren. Aber kein Sozialhistoriker kommt um die theoretische Herausforderung herum, das, was sich im 18. und 19. Jahrhundert so augenscheinlich auf allen Lebensgebieten geändert hat, begrifflich zu fassen. Man kann doch die Herausbildung der modernen Welt nicht leugnen, nur weil einem die Modernisierungstheorie politisch nicht paßt. Es kann doch darüber hinaus nicht umstritten sein, daß diese Durchsetzung der modernen Welt Prozeßcharakter hatte und ein komplexes Resultat, das sich von der Ausgangslage der vormodernen Welt unterscheidet.4 Strittig ist doch »nur«, ob dieser Prozeß offen oder teleologisch verläuft, ob seine Resultate flächendeckend sind oder nicht vielmehr auf innere und äußere Grenzen stoßen, ob ihm eine prinzipiell fortschrittliche bzw. prinzipiell reaktionäre Tendenz immanent ist, ob wir ihm mit marxistischer Theorie beikommen oder nicht usw.
Hier ist zu fragen, ob es nicht Aufgabe des Historikers wäre, die Emanzipationsangebote und Zuwächse an Lebenschancen einerseits, die gleichschaltenden und pathologischen Aspekte des Modernisierungsprozesses andererseits je und je kritisch zu gewichten. Dies eben scheint mir im Rahmen der von Habermas5 vorgestellten Antithet'k von System und Lebenswelt möglich zu sein.
Zweifellos verdient das vielschichtige Werk von Habermas eine ausgiebigere Würdigung, als sie mein knapper Literaturbericht leisten konnte. Vor allem wäre dem Werk zu wünschen, daß es Leser fände, die sich nicht schon durch das Mißverständnis einiger als Anregung zur Lektüre gemeinter Hinweise in ihren Vorurteilen bestätigt finden. Besonders die Auslotung der Möglichkeiten und humanen Qualitäten rationaler Kommunikation und des Selbstverständnisses von Wissenschaft in ihr durch Habermas mußte gänzlich unerwähnt bleiben, obwohl sie angesichts des gegenwärtig modischen Ausuferns von Zivilisationskritik in Apologien des Irrationalen, in Unmittelbarkeitsphantasien und in Volkstümelei von besonderer Bedeutung für diejenigen ist, die bei allem skeptischen Vorbehalt doch der von Hannes Heer jüngst denunzierten »aufklärerischen Arroganz der Wissenschaft« die Stange halten wollen. Man sollte sich daher von den mehr als 1000 Seiten der »Theorie des kommunikativen Handelns« nicht abschrecken lassen, weil ihre Lektüre es uns erlaubt, das historische Mehr an Freiheit und selbstbestimmter Lebensgestaltung ebenso wahrzunehmen wie deren Bedrohung durch die Tendenz zur Kolonialisierung von Lebenswelten.
Gerade diese spannungsreichen Begriffe gestatten es, die von den Historikern untersuchten Widerstände des »Volks« gegen soziale Disziplinierung und Rationalisierung eben nicht einfach auf der Seite der geschichtlich überholten Rückzugsgefechte abzubuchen oder sozialromantisch zur autochthonen, eigensinnigen Volkskultur zu verklären, sondern vielmehr ihren geschichtlichen Ort und das Lemangebot für uns Heutige genauer zu bestimmen. Dabei scheinen mir, in grober Unvollständigkeit, folgende Positionen seitens des »Volks« in jeweils unterschiedlichen, konkreten geschichtlichen Situationen eingenommen worden zu sein: Die Verteidigung von Traditionen; die Schaffung neuer Bedürfnislagen und Artikulationsweisen; die Adaption bestimmter hegemonialer Stile und Sinnangebote; die Verflechtung von Anpassungs- und Widerstandsleistungen; die Markierung von Grenzen der Angleichung; das Aufbrechen ganz neuer, originärer Konfliktzonen usw.
Vielleicht sollte unsere Diskussion, damit sie sich nicht in Polemik erschöpft, zum Anlaß genommen werden, einige Präzisierungen des Konzepts hervorzuheben6, die Mißdeutungen vermeiden helfen:
Zunächst will ich nichts weniger, als eine »umgekehrte ModernisierungsTheorie« oder irgendeine andere Globaltheorie kreieren. Die Debatte um den Erklärungswert von Modernisierungstheorien oder um das marxistische Modell der gesetzmäßigen Abfolge von Gesellschaftsformationen wird auf einer anderen, allgemeineren Ebene geführt. Vielmehr geht es hier darum, ob wir für die besonderen Aspekte der geschichtlichen Veränderungen im Alltagsleben als einem Teil der umfassenderen Sozialgeschichte eine konsistente Begrifflichkeit entwickeln können. Hier versagt meines Erachtens der Marxismus gegenüber Modernisierungskonzepten, weil diese unbelasteter von der möglichen Gleichrangigkeit historischer Prozeßebenen ausgehen können, wo der Histomat sich in Basis-Überbau-Akrobatik versteigen muß. Jedoch versagen auch systemtheoretisch ausgerichtete Modernisierungskonzepte vor der Widersprüchlichkeit alltagsgeschichtlicher Phänomene, weil sie das Systematische dem Unsystematischen, das Globale dem Besonderen vorzuziehen geneigt sind. Die Einführung des Spannungsverhältnisses von System und Lebenswelt verweist auf konkurrierende soziale Logiken und ermöglicht daher die kohärente Analyse sowohl beider Seiten des Spannungsverhältnisses für sich als auch der Interdependenzen und Konflikte zwischen beiden.
Der Habermassche Ansatz erlaubt, sowohl die emanzipatorischen Qualitäten des Rationalisierungsprozesses zu würdigen, als auch dessen pathologischen Wirkungen nachzugehen, die vor allem dann auftreten, wenn sich die systemischen Logiken auf jene Alltagsbereiche auszudehnen suchen, die besser lebensweltljch kommunikativ zu gestalten sind: die Felder der Sozialisation, der gesellschaftlichen Integration und der Kultur. Dieses Übergreifen, nicht aber, wie Lüdtke mißversteht, jede Rationalisierung wird von Habermas treffend als Kolonisierung der Lebenswelten beschrieben, ein Vorgang, der auf Widerstände stößt, an Grenzen gelangt, zuweilen auch zurückgeworfen wird. Heute, in einem Zeitalter, wo die Grenzen des Wachstums, die Grenzen der Erziehbarkeit und die zerstörerischen Begleitumstände von lange als Fortschritt gefeierten Entwicklungen schmerzlich bewußt werden, scheint die kritische Betonung der pathologischen Seite des Modernisierungsprozesses ebenso notwendig zu sein wie ein Ansatz, der Soll und Haben der Modernisierung gewissenhaft abwägt und sich die optimistische Perspektive möglicher Erweiterungen von Emanzipationsangeboten und Lebenschancen nicht durch globale Untergangsstimmungen abkaufen läßt.
Zu betonen ist ferner, daß einem gerechten Verständnis solcher Konflikte nicht geholfen wäre, würde man auf der Seite der Volkskultur nur humanes Potential und auf der Seite der Rationalisierung nur Pathologien und Gleichschaltungsprozesse verbuchen wollen. Der Vorschlag, Moderne und Fortschritt begrifflich zu entkoppeln, bedeutet doch gerade nicht, statt dessen nun die Vision eines universalen Gefängnissystems7 zu propagieren. Um auf Alf Lüdtkes Beispiel der »Bartwichserei« zurückzukommen: Selbst würde man dieser körperbetonten Rüpelei unter Kollegen den Glanz »eigensinniger« Alltagspolitik zuerkennen, dürften doch die bedrückenden Aspekte solcher Körperlichkeit nicht verniedlicht werden. Das Opfer konnte eben nur dann das nächste Mal zum Täter werden, wenn es potentiell gleich stark war. Männlichkeitswahn, eine Hack- und Pick-Ordnung, der die Schwachen unterliegen, »gesundes Volksempfinden«, das durch formalistische und rationalistische Interventionen des Rechtssystems nur mühsam von der Selbstjustiz abgehalten wird: Auch solche Konfliktzonen treten in der Moderne auf und erlauben es nicht, eine camouflierte Herrschafts-Widerstands-Dialektik als zentrales Ordnungskriterium in die Alltagsgeschichte einzuführen. Das Humanisierungspotential liegt nicht nur auf Seiten der »Volkskultur«, so wenig wie nur in der Fortschrittslogik eines globalen Modernisierungsprozesses. Um ein Beispiel zu geben: Das Auftreten »auffälliger« Jugendsubkulturen in Deutschland von den »Wilden Cliquen« in der Weltwirtschaftskrise über die »Edelweißpiraten« im Dritten Reich bis zu den »Halbstarken« in den Wirtschaftswunderjahren markiert sicher, in allerdings geschichtlich erheblich unterschiedenen Konstellationen, Grenzen der Erziehbarkeit, die Rand- und Konfliktzonen einer modernen Sozialdisziplin. Dem Verhalten solcher Jugendlicher kann wohl auch mit einiger Sympathie begegnet werden, weil sie eine eher deprimierende Lebensperspektive spontan und kreativ im Rückgriff auf lebensweltliche Erfahrungsräume zu bewältigen suchten. Zugleich verweist das Auftreten von Aggressivität, Machismo, Betonung der körperlichen Überlegenheit gegenüber dem Schwachen oder Fremden und nicht zuletzt die Perspektivlosigkeit dieser Subkulturen — die auf die Jugendphase im Lebenslauf und die proletarische Teilgruppe der ungelernt und unständig Beschäftigten gleich doppelt beschränkt waren — doch auch darauf, daß jenseits der Grenzen der Erziehbarkeit auch die »Barbarei« lauert und nicht nur der bartwichsende »gute Wilde«.
Ähnlich kurzschlüssig ist die abstrakte und pauschale Einordnung solcher und vergleichbarer subkultureller Phänomene in die Antithetik von verwerflicher Organisation und löblicher Spontaneität. Es gibt natürlich oftmals zeitlich und sozial deutlich ausgegrenzte Teilbereiche, in denen informelle Solidarstrukturen von (häufig, nicht immer, ungelernten) Arbeitern und ihre lebensweltlichen Erfahrungen fremden, formellen Organisationsangeboten gegenüberstehen. Eine genauere Analyse zeigt dann aber, daß die gleichen Organisationen den Erfahrungen anderer Arbeiter angemessen sein mögen, ihren Bedürfnissen nach Qualifikation, sozialer und kultureller Hebung, gesamtpolitischem Ausdruck entgegenkommen.8Auch die oft belächelte Parole: Bildung, Wissen ist Macht glitt sicher am Alltag vieler Arbeiter vorbei und muß daher in den Schwächen ihres normativen Anspruchs und der mangelnden Integrationskraft ihrer Sinnangebote kritisiert werden. Zugleich aber drückte sie das Lebensgefühl anderer Arbeiter adäquat aus und befähigte sie zu einem emanzipatorischen Entwurf ihres Lebensplans und der kollektiven Perspektive ihrer Klasse.9 Wenn solche Differenzierungen weder in apologetischen Theorien von der »anderen Arbeiterbewegung« bzw. von der »volksparteilichen« Integrationsmission der SPD verwischt werden sollen, noch sich mit einem mikrohistorischen Einerseits-Andererseits bescheiden wollen, dann brauchen wir ein Doppelkonzept von systemischer und lebensweltlicher Logik, das die Möglichkeiten und Grenzen beider Orientierungsangebote, der formellen wie der informellen, kritisch abwägen und in Beziehung zueinander setzen kann.
Eine letzte Bemerkung: Es wäre wenig nützlich, wenn sich Theorie-Kontroversen im Bereich der Alltagsgeschichte verselbständigten, bevor eigentlich eine breite und empirisch ausgewiesene Forschung vorliegt. Theorien, auch das hier vorgeschlagene Orientierungsangebot (Habermas), haben für Historiker allemal vor allem heuristischen Charakter. Sie definieren Strategien der Annäherung an konkrete Problemlagen, stellen das Vokabular und die Grammatik für erklärende Sätze. Die eigentliche Herausforderung der Alltagsgeschichte wie jeder Geschichte besteht jedoch in sowohl detailversessener wie theoretisch geleiteter »thick description«. Hier und nur hier entscheidet sich letztlich die Leistungsfähigkeit theoretischer Zugriffe.
Nicht um einer »Versöhnlichkeit« willen, die Unvereinbares vermanscht, sondern weil ich vom Primat des Historisch-Konkreten vor den tentativen Angeboten theoretischer Verallgemeinerung überzeugt bin,' möchte ich daher noch zu bedenken geben, daß die Wahl sinnvoller Konzepte manchmal so sehr von den jeweiligen Forschungsgegenständen abhängig sein kann, daß einander in der reinen Theorie ausschließende Ansätze in der historischen Empirie auf unterschiedlichen Themenfeldern durchaus bestehen können. So mag Lüdtkes Auffächerung der Herrschafts-Widerstands-Dialektik in Ungleichzeitiges, Eigensinniges und Alltagspolitisches bei seinem Forschungsprojekt über Metallarbeiter durchaus nützlich sein, während es mir bei meiner Untersuchung zur Geschichte des Umgangs mit »auffälligen« Jugendlichen im Bereich der Fürsorgeerziehung nur den Blick verengen würde. Auf »meinem« Interessengebiet herrscht in der Literatur neben simplen Apologien pädagogischen »Fortschritts« entweder der universale Pessimismus Foucaultscher Prägung vor, der die Wahrnehmungsweisen und Ordnungsabsichten von »oben« schon für das geschichtliche Resultat nimmt, oder eben die Idealisierung autonomer, informeller und spontaner Regungen der Betroffenen. Von diesen einseitigen theoretischen Positionen führt der Habermassche Ansatz fort, weil er erlaubt, deren Vorzüge aufzunehmen, ohne deren Verzerrungen zu teilen. Vielleicht ist es ein billiger Erkenntnisrelativismus, vielleicht aber auch Einsicht in die Begrenztheit und Brüchigkeit historischer Erkenntnis, wenn ich vorschlage, von der unfruchtbaren Polemik zur »friedlichen Koexistenz« unterschiedlicher Forschungsstrategien überzugehen. Ich bin neugierig, was dabei herauskommt; denn: the proof of the pudding is in the eating.
Anmerkungen
- A. Lüdtke: Erfahrung von Industriearbeitern. Thesen zu einer vernachlässigten Dimension der Arbeitergeschichte, in: W. Conze/U. Engelhardt (Hrsg.): Arbeiter im Industriaiisierungsprozeß (= Industrielle Welt, Bd. 28), Stuttgart 1979, 494-512; ders.: Alltagswirklichkeit, Lebensweise und Bedürfnisartikulation, in: Gesellschaft, Beiträge zur Marxschen Theorie, Bd. 11, Frankfurt/M. 1978, 311-350; ders.: Rekonstruktion von Alltagswirklichkeit — Entpolitisierung der Sozialgeschichte?, in: Bcrdahl u.a.: Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1982, 321-353; ders.: Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. R. Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, 416-438.↩
- H.-U. Wehler: Modcrnisicrungstheorie und Geschichte. Göttingen 1975.↩
- F.J. Brüggemeier/L. Niethammer: Schlafgänger, Schnapskasinos und schwerindustriclle Kolonie. Aspekte der Arbeiterwohnungsfrage im Ruhrgebiet vor dem Ersten Weltkrieg, in: J. Reulecke/W. Weber (Hrsg.): Fabrik — Familie — Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichtc des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978, 135-176; L. Niethammer (Hrsg.): Wohnen im Wandel. Wuppertal 1979; F.J. Brüggemeier: Entdeckungsreise in das eigene Volk. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889-1919. Phil. Diss. Essen 1982.↩
- Man denke etwa an die begriffsgeschichtlichen Studien zur Entstehung der modernen Welt in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, bisher 4 Bde., Stuttgart I972ff., die gerade das von Lüdtke so verpönte Vorher-Nachher im Übergang zur Moderne mit weit in den alltäglichen Sprachgebrauch hineinreichenden Belegen ausmessen.↩
- J. Habermas: Theorien des kommunikativen Handelns. 2 Bde., Frankfurt/M. 1981.↩
- S. bcs. die anregenden Reflexionen bei J. Kocka: Klassen oder Kultur? Durchbrüche und Sackgassen in der Arbeitergeschichte, in: Merkur 36 (1982), H. 10, 955-965.↩
- Darin scheint mir übrigens die Schwachstelle bei Foucault und mehr noch bei den Foucaultianern zu liegen.↩
- E. Lucas: Zwei Formen von Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung, Frankfurt/M. 1976, in kritischer Auseinandersetzung mit der holzschnittartigen Skizze bei K. H. Roth: Die »andere« Arbeiterbewegung. 1973, 4. Auf). München 1977.↩
- D. Langewiesche: Politik — Gesellschaft — Kultur. Zur Problematik von Arbeiterkultur und kulturellen Arbeiterorganisationen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte. Bd. XXII (1982), 359-402.↩